Seit März 2013 können sich Jugendliche und junge Erwachsene an das Online-Projekt www.da-sein.de wenden. Gleichaltrige begleiten sie dort per Mail in ihrer Trauer, wenn ein wichtiger Mensch in ihrem Leben gestorben ist oder wenn die jungen Menschen selbst eine lebensbedrohliche Diagnose erhalten haben. Das Team, bestehend aus ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ambulanten Hospizdiensts Oldenburg, arbeitet anonym und kostenlos.
„Meine beste Freundin ist gestorben, und ich fühle mich total allein.“ „ Mein Bruder ist tödlich verunglückt, und ich kann mit niemandem darüber sprechen.“ „Meine Eltern sind selbst so traurig, die will ich nicht belasten.“ „Die Ärzte sagen, es gibt keine Hoffnung mehr. Wie soll ich das aushalten?“ So könnten Mails aussehen, die bei www.da-sein.de eingehen. „Die Jugendlichen, die uns schreiben, wissen meist nicht weiter, sie wissen nicht, an wen sie sich sonst wenden sollen“, sagt Tim, einer der ehrenamtlichen Online-Begleiter. Die Schreiber trauern um Verwandte oder Freunde, oder sie sind selbst schwer krank. Sie wollen ihren Eltern keine Sorgen bereiten oder haben das Gefühl, dass niemand sie versteht, dabei brennt ihnen so viel auf der Seele.
Tim ist seit Anfang 2014 bei da-sein.de dabei. „Ich glaube, dass es jungen Leuten leichter fällt, online Hilfe zu suchen und über ihre Trauer zu sprechen, als sich zum Beispiel für ein persönliches Gespräch beim Hospizdienst anzumelden“, erklärt der 26-Jährige. „Wir arbeiten anonym, man muss also keinen Namen, nicht einmal Alter oder Geschlecht angeben, wenn man nicht möchte. Und man kann uns zu jeder Zeit und von jedem Ort aus per Computer oder Smartphone anmailen.“ Tim, der wie die übrigen ehrenamtlichen Online-Ansprechpartner nur seinen Vornamen verrät, ist berufstätig; andere studieren oder gehen noch zur Schule. Alle möchten sich engagieren und alle hatten schon selbst mit dem Thema Tod zu tun.
Trauer und ganz viel Leben
„Tod und Trauer beschäftigen Jugendliche sehr, aber es gibt bei ihnen auch viele Fragezeichen und viele Tabus“, hat Cordelia Wach festgestellt. Die hauptamtliche Trauerbegleiterin beim Ambulanten Hospizdienst und Kinderhospizdienst Oldenburg war 2012 noch für die Kulturetage am Projekt Perspektivenwechsel beteiligt. „Dabei beschäftigten sich Jugendliche speziell mit den Themen Leben, Tod und Trauer.“ Aus Perspektivenwechsel ging da-sein.de hervor. „Wir haben uns damals gefragt, wie man, wenn es um Trauerbegleitung geht, am besten an die jungen Leute herankommt. Es war naheliegend, es über das Internet zu versuchen“, erklärt Cordelia Wach. „Weil wir anonym arbeiten, gibt es keine so große Hemmschwelle für die Jugendlichen. Zudem sind es Gleichaltrige, sogenannte Peers, die ihre Mails beantworten.“ In diesem Frühjahr wurde der Online-Auftritt noch einmal überarbeitet. „Wir haben die Seite interaktiver gemacht, sprechen die Jugendlichen nun noch direkter an“, so Wach. „Jetzt kann jeder auf da-sein.de eigene Gedanken äußern, in Erinnerung an jemanden einen Stern anlegen und auch Buch- oder Filmtipps abgeben.“ In den Kontakten selbst ginge es nicht nur um Trauer. „Wir wenden uns ja an 14-, 15-, 16-Jährige. Gerade in dem Alter passiert so viel, man entdeckt seine eigene Identität, es geht ums Erwachsenwerden. In einer Trauersituation kommen dann oft ganz viele andere Themen mit hoch, das ist Leben pur“, weiß Cordelia Wach.
Peers unterstützen und begleiten
„Die Jugendlichen schreiben zum Beispiel über Ess- und Schlafstörungen, Selbstverletzungen, Missbrauch und Suizidgedanken“, erzählt Tim. Wie kann er nun helfen, wenn ihm jemand seine Sorgen anvertraut? „Ich bin kein Psychologe, aber ich kann da sein und zuhören, kann den Fragestellern Halt geben“, sagt er. „Niemand muss durch solch eine Situation alleine durch.“ Zu seiner ehrenamtlichen Tätigkeit kam der 26-Jährige, weil ihn die Hospizarbeit interessiert. „Jeder von uns Peers hat eigene Erfahrungen mit Trauer gemacht“, erklärt er. Das Wort Peer kommt übrigens vom Begriff Peergroup, gemeint ist eine Gruppe von Gleichaltrigen.
„Vor Beginn der Mitarbeit absolviert jeder Ehrenamtliche eine spezielle Schulung. Es geht darum, wie man die Jugendlichen anspricht, um Informationen rund um Sterben, Tod und Trauer allgemein, aber auch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, um festzustellen, ob man der Aufgabe gewachsen ist. Wenn jemand gerade erst eine Trauererfahrung bewältigt hat, wäre es zu früh, um bei uns mitzumachen“, sagt Projektleiterin Cordelia Wach, die die Freiwilligen betreut und sie in ihren Mail-Kontakten berät und unterstützt. Regelmäßig gibt es eine Supervision, einmal monatlich treffen sich die Ehrenamtlichen mit Cordelia Wach zum Austausch. „Wir bieten Begleitung, nicht Therapie“, betont die 46-Jährige. „Denn eigentlich ist Trauer ja gesund, um eine existenzielle Situation zu verarbeiten. Wenn jemand weitergehende Hilfe braucht, können wir aber an zuständige Stellen vermitteln, wir sind mit vielen Institutionen vernetzt.“ Wie oft Peers und Fragesteller miteinander in Kontakt treten, sei sehr unterschiedlich, sagt Tim: „Einige mailen uns regelmäßig, teilweise täglich über Monate hinweg, andere nur ein einziges Mal.“
Echtes Interesse statt „Gefällt mir“
Am Anfang sei das Online-Angebot ein „Sprung ins kalte Wasser“ gewesen, so Cordelia Wach: „Gerade Erwachsene und auch viele Experten konnten sich nicht vorstellen, wie eine Begleitung ohne direkten Kontakt von Angesicht zu Angesicht funktionieren soll. Da gab es viel Skepsis“, erinnert sie sich. „Heute wissen wir, dass wir gebraucht werden.“ „Mutmacher“ nennen einige Besucher im Gästebuch das Team der Seite. „Wenn ich Gleichaltrigen von dem Angebot erzähle, sagen immer alle: „Was für eine gute Idee.“ Das Feedback der Mailkontakte macht die Arbeit sehr befriedigend, wenn man merkt, dass man jemandem geholfen hat“, so Tim.
Soziale Netzwerke, in denen Jugendliche in ständigem Austausch mit anderen stehen, könnten diese Art von Unterstützung nicht leisten. Eine Postkarte, die über da-sein.de informiert, zeigt es drastisch: „Ich werde bald sterben“ hat die fiktive „Marie“ auf einer Plattform geschrieben. Die Reaktion: fünf „Gefällt mir“-Angaben und ein Kommentar bestehend aus einem traurigen Smiley. In den sozialen Netzwerken sind heikle Themen, die Menschen existenziell betreffen, nicht vorgesehen. Da geht es eher um Selbstdarstellung, glaubt Tim. Bei schlimmen Nachrichten weiß kaum jemand, wie er reagieren soll also wird lieber geschwiegen. „Wir füllen da eine Lücke, so der Ehrenamtliche. Wir wollen vermitteln, dass es gut ist, andere anzusprechen, dass man nicht alles in sich hineinfressen muss“, bestätigt Cordelia Wach. „Es ist richtig und wichtig, sich Unterstützung zu suchen, wenn man sie braucht.“
Info:
Die Online-Trauerbegleitung unter www.da-sein.de richtet sich an junge Menschen bis etwa 25 Jahre, die sich in Krisen befinden, die durch Trauer- oder Sterbeerfahrungen ausgelöst wurden. Fragesteller registrieren sich anonym auf der Seite. Die erste Mail geht immer an Cordelia Wach, die sie an einen der 22 weiblichen und vier männlichen Peers weiterleitet. Über die hochverschlüsselte Plattform sind alle Angaben sicher, die Beratung verläuft anonym und kostenlos. Rund 100 Anfragen hat das Team, das aus 26 Ehrenamtlichen zwischen 17 und 26 Jahren besteht, seit 2013 bearbeitet. Mehr als 22.000 Menschen haben die Seite bisher besucht.
Entstanden ist da-sein.de aus dem Projekt „Perspektivenwechsel“ zum Thema Leben und Sterben, das die Kulturetage Oldenburg zusammen mit dem Ambulanten Hospizdienst und dem Palliativzentrum am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg in 2012/2013 mit Jugendlichen durchgeführt hat. In mehreren Oldenburger Schulen setzten sich die Schülerinnen und Schüler damals im Kunst-, Musik- oder Werte und Normen-Unterricht mit Leben, Tod und Trauer auseinander. Heute arbeitet das Team von da-sein.de in Trägerschaft des Ambulanten Hospizdienstes und Kinderhospizdienstes Oldenburg. Es bietet auch Infos speziell für Eltern sowie für Schulen an, etwa für Unterrichtseinheiten oder Projekttage. Förderer des Projekts sind unter anderem die Stiftung Niedersachsen, das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Fonds Soziokultur und die Stadt Oldenburg.
Weitere Infos gibt es unter www.da-sein.de und unter www.hospizdienst-oldenburg.de. Der Ambulante Hospizdienst und Kinderhospizdienst Oldenburg sowie die Stiftung Evangelischer Hospizdienst Oldenburg in der Haareneschstraße 62 sind auch unter der Rufnummer (0441) 770 346-0 zu erreichen.
Antje Wilken